Login

Ceija Stojka (Margarete Horvath) 1933-2013

Peter Paul Wiplinger

Magazintext | erschienen in Wienzeile 65


Noch höre ich
den Klang Deiner Stimme,
noch sehe ich Dein Gesicht.

Ein Sturm war plötzlich aufgekommen, kalt und windig war es, der Regen peitschte uns ins
Gesicht, als man Dich, liebe Ceija, im Sarg zum offenen Grab trug. Pfarrer Helmut Schüller
sprach die letzten Gebete, gab Dir den letzten Segen. Die Ruzsa sang Roma-Lieder, die Drei-
Mann-Kapelle spielte Roma-Musik. Die Hände der den Sarg umstehenden Familienmitglieder
ruhten auf dem Sarg, manche küßten ihn und somit Dich, zum letzten Mal. Ein Leben war
beendet, ein guter Mensch war tot. Eine großartige Frau. „Die Ceija“, so nannte man Dich im
Freundeskreis.
Was soll ich jetzt über Dich schreiben? Und wie? Das würde ich Dich jetzt gerne fragen. „Es
steht sowieso alles im Internet“, würdest Du vielleicht sagen. Und hinzufügen: „Schreib was
und wie du willst.“ Ich nehme nun Deine Bücher in die Hände, lese da und dort darin, schaue
mir die Bilder von Dir an, sehe andere Bilder in mir: Erinnerungsbilder von unseren
Begegnungen in all den vergangenen Jahren.
Du, Ceija, im Kreis der „Deinen“, bei der Roma-Demonstration in Wien, das Megaphon in
den Händen, und wie Du zur Menge sprichst. Und wie wir in Deinem Wohnzimmer sitzen,
mit dem Armando Capannolo, der mit nur 30 Jahren vor kurzem plötzlich in Rom verstorben
ist; er hatte auf meine Anregung hin seine Diplomarbeit über Dich geschrieben. Du hast -
obwohl ich ausdrücklich gesagt habe: „Bitte, Ceija, wir kommen Dich nur besuchen, koch ja
nichts!“ - die schärfste Pasta asciutta meines Lebens gekocht. Dem Armando sind die
Schweißperlen auf der Stirn gestanden, mir brannte schon der Magen, da sagtest Du: „Gell, a
bißl schoaf is es vielleicht.“ Und wir lachten. Dann fotografierte ich Euch beide. Und später
dann noch die Madonnenstatuen, darunter die Lourdes-Madonna mit dem Rosenkranz. Du
warst ja sehr fromm. Sagtest einmal, Du hättest Deine/Eure Befreiung aus dem KZ Bergen-
Belsen nicht nur den Alliierten, den Amerikanern, sondern auch der Muttergottes zu
verdanken gehabt; und lebenslang danktest Du ihr, für Deine/Eure Rettung, für Dein Leben
überhaupt. „Nein, ich bin nicht gläubig, Ceija“, sagte ich einmal. „Schade!“, sagtest Du nur
darauf. Und fügtest dann doch noch hinzu: „Man muß im Leben an etwas glauben!“ Jetzt, da
mir dieser Satz in den Sinn kommt, berührt mich die Erinnerung daran tief. Ich habe bei
Deinem Begräbnis auch kein Gebet gesprochen. Habe mir statt dessen die Erinnerungsbilder
wieder vor Augen geführt. Auch jenes, als Du zur Feier meines 60. Geburtstages ins
Literaturhaus gekommen warst. Ein Foto gibt es da von uns. Wir lachen herzlich einander an
und fröhlich in die Kamera. Da sehe ich uns jetzt auch auf dem Heimweg zu Dir in die
Kaiserstraße, vom Literaturhaus weg, spätnachts, nach einer Roma-Literatur-Lesung, die ich
im Rahmen einer Veranstaltungsreihe des Österreichischen P.E.N.-Clubs organisiert hatte.
Dann sind wir noch in einem Café gesessen, haben Toast gegessen, etwas getrunken und
lange miteinander geredet. Ich erinnere mich auch an meinen Antrag zu Deiner Aufnahme in
den Österreichischen P.E.N.-Club und an die Abstimmung bei der Vorstandssitzung. Und an
die mir zynisch erscheinende Wortmeldung eines Kollegen, der abschätzig sagte: „Aber die
kann doch gar nicht rechtschreiben“. Und ich darauf: „Das vielleicht nicht, das ist ja auch
wurscht, in Auschwitz hat sie das nicht gelernt.“ Und dann Schweigen; Abstimmung,
Aufnahme. Ich erinnere mich, wie Du auf dem Grabhügel gesessen bist und eine Zigarette
geraucht hast, knapp nachdem der Sarg mit Deinem Bruder Karl in die Grube hinabgelassen
worden war. Ja, ja, der Karl, der im Teppichgeschäft in der Burggasse seine Bilder gemalt und
dann auch ein Buch geschrieben hat und in den PEN aufgenommen wurde. Und Dein großer
Bruder, der Mongo Stojka, der dann noch nach Euch sein berührendes Buch „Die papierenen
Kinder“ verfaßt hat. Und Deine Schwester Katharina. Und der kleine Ossi, der im KZ
gestorben ist, infiziert mit Typhusläusen. Und Du hast ihn, als er auf dem Leichenhaufen lag,
noch besucht, hast ihm Dein Hemdchen als Leichentuch über den leblosen Körper gelegt.
Mein Gott, Ceija, was sind das für Bilder, was muß das für Dich gewesen sein! Wie findet
man denn dann nachher irgend wann einmal wieder in ein halbwegs normales Leben zurück?!
Aber das warst eben Du! Unverwechselbar! Unbeugsam! Auch inmitten Deiner Familie, die
Du so liebtest, sehe ich Dich, damals im Amerlinghaus, bei einem der Roma-Feste. Oder am
Beginn unserer Bekanntschaft, unserer Freundschaft. Es muß in den Achtzigerjahren gewesen
sein, beim ersten „Zigeunerball“, den ich besucht habe; er fand in einem Gasthaus statt,
irgendwo draußen in der Brigittenau, als ich Dich und Deine Geschwister kennenlernen
durfte, und Ihr mich eingeladen habt, an Eurem Tisch Platz zu nehmen. Lange sind wir
beisammen gesessen, bis spät nach Mitternacht. Fröhlich waren wir alle. Du strahltest. Und
Dein kleiner weißer Hund bellte ständig und wuselte herum.
Des öfteren habe ich Dich im Lauf der vielen Jahre fotografiert; auch damals. Ich schaue mir
jetzt die Bilder auf meinem PC-Bildschirm an. Ein schönes Foto habe ich von Dir in einem
der beiden Otto Wagner-Pavillons am Karlsplatz gemacht, als Du dort eine Ausstellung
Deiner Bilder hattest. Ich war zur Vernissage mit meinem Freund gekommen, dem Roma-
Dichter Ilija Jovanović, den wir auch vor nicht allzu langer Zeit begraben haben. Jung, fesch,
fröhlich, lebendig, herzlich, großmütig, dem Leben zugewandt warst Du; und stolz darauf
eine Romni zu sein. Ein Rom, ein Mensch! Deine Botschaft war: „Wir sind keine Minderheit,
wir sind Menschen!“ Nur manchmal legte sich ein Schatten tiefer Trauer über Dich.
Ausgedrückt durch den erschütternden Satz von Dir: „Auschwitz lebt, es ist in mir!“
Manchmal, vor allem im Sommer, sah man auf Deinem Arm die eingebrannte KZ-Nummer.
Dein Lebenswerk: Du hast den NS-Völkermord an Deinem Volk, den Roma und Sinti, als
eine der ersten, jedenfalls in Österreich, ans Licht, d.h. ins Bewußtsein geholt! Ein Tabubruch.
Gottseidank! Man muß das Schweigen brechen, das Verschwiegene zur Sprache bringen. So
vieles, zu vieles blieb und bleibt sowieso für immer im Dunkel, gleitet langsam aber
unaufhaltsam, trotz der vielen Bücher, hinab ins Vergessen, ist dann nicht mehr präsent. Und
die Neonazis marschieren und schreien „Sieg Heil!“, feiern „Führers Geburtstag“; und man
findet nichts dabei. Und neue Feindbilder gibt es wieder: die Ausländer, die Asylanten,
Menschen die nirgendwo dazugehören. Und ein Fußballfan sagt zum Gemeinderabbiner
mitten in Wien „Du Saujud!“. Und daneben stehende Polizisten schreiten nicht ein. Sagt einer
von ihnen nur: „Naja, das ist halt Fußball in Wien!“ Und der Rechtsstaat schaut tatenlos zu.
Wie lebtest Du in einer solchen Welt? Wie lebtest du weiter nach all dem, was Du und Deine
Großfamilie erlitten habt, von der nur Du, Deine Mutter und vier Deiner Geschwister den
Holocaust überlebt haben; und dies ohne Haß und Rachedurst, ohne Verbitterung und
Resignation?! Im Gegenteil: als Zeitzeugin, Mahnerin, Künstlerin, hast Du mit Deinen
Büchern, mit Bildern, in Filmen, in Schulen bis zuletzt stets zur Mitmenschlichkeit, zum
Menschsein aufgerufen. Das waren meine Gedanken bei Deinem Begräbnis, Ceija, das sind
sie jetzt, da ich dies schreibe.
Vor mir liegen Deine Bücher. Das erste: „Wir leben im Verborgenen – Erinnerungen einer
Rom-Zigeunerin“, 1988 erschienen, mit dem Du über Nacht bekannt geworden bist. Und das
so wichtig war durch das Aufzeigen des Schicksals der Roma und Sinti im Holocaust. Das
war bis dahin weitgehend verschwiegen, nur wenigen bekannt. Dein Erzählen in diesem Buch
berührte, ja erschütterte gerade deshalb so stark, weil Du das alles zwar erst relativ spät, als
Erwachsene, Jahrzehnte nach der erlebten und durchlittenen Wirklichkeit, aber aus der Sicht
des Kindes, das Du damals in Auschwitz-Birkenau, in Ravensbrück, in Bergen-Belsen warst,
geschrieben hast. Unvergeßlich die Passage in dem Buch, da Du erzählst, wie eines Tages
Eure Mutter per Post die Urne mit der Asche Eures ermordeten Vaters, ihres Mannes, der
schon vor Euch nach Dachau abtransportiert worden war, zugestellt bekommen hat. Viele
Jahrzehnte später las ich in einem Deiner blauen Hefte, in die Du alles, was Dir so einfiel,
niedergeschrieben hast, diesen wunderbaren Satz aus einem Gedicht für Deinen Vater:
„Weiße Chrysanthemen lege ich auf Dein Grab.“ Nein, keine poetologischen Erklärungen,
keine Interpretationen braucht es da, im Gegenteil: die verbieten sich. Wie sanfter Schneefall
in einer hellen Winternacht schwebt die Trauer zur Erde herab und hüllt auch uns mit ein.
Dann erscheint das zweite Buch: „Reisende auf dieser Welt“ (1992). Nachkriegszeit. Von der
fast 200 Personen umfassenden Stojka Großfamilie habt nur Ihr mit Eurer Mutter überlebt;
auch dank ihr und eurem unzerstörbaren Lebenswillen; und durch eine glückliche Fügung des
Schicksals. Dein Volk, die Roma und Sinti, zu hunderttausenden ermordet, vergast.
Herrenrasse. Untermenschen. Rassenwahn. Völkermord. Das alles überlebt. Und sich dann
wiederfinden nach der Befreiung neuerlich am Rande der Gesellschaft, in einer neuen Fremde
in der „Alten Heimat“, die es so wie vormals für Euch Reisende, für Euch Roma, nicht mehr
gibt. Die neuerliche Ablehnung als „Zigeuner“ bekommt ihr zu spüren. Der „Zigeunererlaß“
(1948) des sozialistischen Innenministers Oskar Helmer gibt die gesellschaftspolitische
Ausrichtung vor, sanktioniert geradezu den neu aufkommenden Unmut gegen das Hausierer-
und Bettlervolk; auch gegen die aus den KZ. Man „verzeiht“ ihnen nicht, daß sie überlebt
haben. Das Fremde unter uns wollen wir nicht, dachten damals noch immer viele, denken
heute schon wieder viele, viel zu viele; plakatieren es, sprechen es aus mit Parolen und
Hetztiraden. Und schon wieder fällt in diesem Zusammenhang das Wort „Heimat“, wird
dieses Wort und wird die Heimat mißbraucht.
Später trittst Du nicht nur mit Deinen Büchern hervor, sondern auch als Person; als
Zeitzeugin. Du machst Lesungen, gehst in Schulen, sprichst mit den jungen Menschen,
erzählst Ihnen von Deiner damaligen Kinderwelt in den KZ, zeigst in Ausstellungen Deine
Bilder, welche die unbegreifbare schreckliche Grausamkeit der entmenschten KZ-Schergen,
der SS-Wachen, der Mörder und Mitläufer festhält; Gedichte, Texte, Bilder, in und mit denen
Du Dein Schicksal aufarbeitest, aber auch Zeugnis ablegst von dem, was man Dir und
Deinem Volk angetan hat. Und mit denen Du aufrufst zum „Nie wieder!“ und „Niemals
vergessen!“
Es wird auch über Dich berichtet. In Zeitungen, Zeitschriften, mit Dokumentarfilmen, im
Rundfunk. Ein wunderbarer Film von Karin Berger mit dem poetischen Titel : „Unter den
Brettern hellgrünes Gras“ (2005). Die Wirklichkeit ist wieder einmal anders als die Poesie.
Dieses grüne Gras unter den Brettern hat Dir Deine Mutter gezeigt, und ihr habt dieses grüne
Gras gegessen, es hat Euch geholfen zu überleben. 2003 erschien Dein Buch „Meine Wahl zu
schreiben – ich kann es nicht“ im Verlag der Wenigkeiten des Gerald Kurdoglu Nitsche, den
Du „Bruder“ nanntest (er Dich „Schwester“). Der als einer der ersten sich intensiv mit der
„Literatur der Wenigkeiten“ befaßte und das wunderbare Buch „Österreichische Lyrik und
kein Wort Deutsch“ im Haymon Verlag herausbrachte.
Spät aber doch kamen dann endlich auch die „wohlverdienten Ehrungen“, wie das die Dich-
Ehrenden manchmal verschämt und verlegen nannten. Das waren unter anderen das „Goldene
Verdienstkreuz des Landes Wien“ (2001), die „Humanitätsmedaille der Stadt Linz“ (2004),
das „Goldene Verdienstzeichen des Landes Oberösterreich“ (2005), die Ernennung zur
„Professorin“ durch das Österreichische Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur
(2009). Ich saß bei der Feier in manchen Augenblicken gerührt hinten im Saal und gratulierte
Dir anschließend. Du stelltest mir die Frau Brainin (die ich mit ihrem Mann schon kannte) als
Deine Freundin und damaligen KZ-Mithäftling vor. Ein berührender Augenblick. Geschichte.
Liebe Ceija, das alles ging mir in Bildern der Erinnerung durch mein Gedächtnis, als ich
während der Begräbniszeremonie und später am Grab unter den vielen Menschen stand, die
Dich alle schätzen und lieben. Das alles war und ist so präsent, weil es jederzeit in mir
abrufbar ist. Worte und Bilder. Auch die Erinnerung an die schönen Blumenbilder, die Du –
vielleicht als Gegenwehr zu den Bilden des Grauens – gemalt hast, sind mir im Kopf, und ich
sehe sie als Fotografien vor mir auf meinem PC-Bildschirm. Und ich höre auch Dein Lachen.
Und ich höre Deine Stimme, Deine Sprechmelodie, Deinen wunderschönen burgenländisch-
wienerisch-österreichischen Dialekt. Deine einfache Sprache, die ich liebe. Vieles hat uns
verbunden. Und auch dies, daß diese schreckliche Vergangenheit, die Nazizeit, der Krieg, der
Holocaust, zu unserem Leben gehört, weil sie ein Teil in unserer Lebenszeit (gewesen) ist.
Liebe Ceija, das alles wollte ich Dir noch sagen, weil man dies ja erst denkt, wenn man es
dem Menschen, dem man das alles sagen möchte, nicht mehr sagen kann; weil es ihn nicht
mehr gibt, weil er tot ist. Eigentlich absurd, aber eben ein Nachruf. Ceija, Du weißt es, aber
ich sage es Dir trotzdem: So viele, alle die Menschen, für die eine Begegnung, eine
Freundschaft mit Dir ein Geschenk war, weil Du Dich auf uns eingelassen hast, mit Deiner
allumfassenden Liebe, werden Dich, solange sie leben, nicht vergessen. Dein Zeugnis-Geben,
Dein Mahnen, und alles was Du damit geleistet und erreicht hast, wird unzerstörbar bleiben;
ein Gegengewicht zur Grauenhaftigkeit in der Welt von damals und heute. Ceija, ich schicke
Dir alle diese Gedanken und Gefühle von mir irgendwohin nach. Vielleicht erreichen sie Dich
dort, wo Du glaubtest, daß Du einmal ganz sicher hinkommen wirst: in den Himmel. Ceija,
ich danke Dir! „Weiße Chrysanthemen lege ich auf Dein Grab“.

Peter Paul Wiplinger
Wien, 12.-13.März 2013

Bücher:
Ceija Stojka: Wir leben im Verborgenen - Erinnerungen einer Rom- Zigeunerin,
herausgegeben von Karin Berger, Picus Verlag, Wien 1988/1989.
Ceija Stojka: Reisende auf dieser Welt. – Aus dem Leben einer Rom-Zigeunerin,
herausgegeben von Karin Berger, Picus Verlag, Wien 1992. Mit einem Vorwort von Karin Berger.
Ceija Stojka: Meine Wahl zu schreiben – ich kann es nicht, Gedichte in Romanes und Deutsch, mit Bildern,
Lyrik der Wenigkeiten, EYE Literaturverlag, Gerald Kurdoglu Nitsche, Landeck/Tirol 2003.
Mit einem Essay von Beate Eder-Jordan und einem Literaturverzeichnis.
Ceija Stojka: Träume ich, daß ich lebe? – Befreit aus Bergen-Belsen, herausgegeben von Karin Berger,
Picus Verlag, Wien 2005.
Ceija Stojka: Auschwitz ist mein Mantel - Gedichte, Lebensgeschichte-Erzählung sowie Bilder von Ceija Stojka,
herausgegeben von Christa Stippinger, edition exil, Wien 2008.

Filme:
Ceija Stoijka: Das Porträt einer Romni, 2001. Regie: Karin Berger.
Unter den Brettern hellgrünes Gras, 2005. Regie: Karin Berger

Bücher | Rezensionen | Magazin | wienzeile Autor_innen